Healthcare

Die fünf Säulen der neuen EU-Pharmarechtsreform

Veröffentlicht am 09 April 2025 Lesen 25 min

Die Pharmaindustrie ist eine der am stärksten regulierten Branchen, für welche strenge Richtlinien für die Entwicklung, die Herstellung und den Vertrieb von Arzneimitteln gelten. In Europa obliegt die Festlegung des regulatorischen Rahmens der Europäischen Kommission, welche die Zulassung von Arzneimitteln zur Verwendung in der gesamten Europäischen Union (EU) überwacht. Des Weiteren erarbeitet die Institution Verordnungen für den Arzneimittelsektor und passt diese bei Bedarf an, führt Maßnahmen durch und gewährleistet die präzise Durchsetzung der EU-Arzneimittelgesetzgebung, kooperiert mit relevanten internationalen Partnern und setzt sich weltweit für das EU-System ein.

Am 26. April 2023 wurde seitens der Europäischen Kommission ein Vorschlag zur Überarbeitung der Arzneimittelverordnung angenommen, der für die Branche eine Vielzahl wesentlicher Änderungen mit sich bringt. Es handelt sich um die umfassendste Überarbeitung seit über 20 Jahren, deren Annahme durch das Europäische Parlament noch aussteht. Die Intention besteht in der Optimierung der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit von Arzneimitteln sowie in der Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit, Attraktivität und Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie innerhalb der EU. Im Folgenden haben wir fünf wesentliche Säulen der neuen Gesetzgebung untersucht, wobei ein Fokus auf den Auswirkungen auf die Branche sowie den Fragestellungen für deren Entscheidungsträger liegt.

Säule Nr. 1: Verringerung der zeitlichen Exklusivität und frühere Verfügbarkeit von Generika und Biosimilars

Eine der wesentlichsten Modifikationen, die der neue Gesetzesentwurf impliziert, ist die Reduktion der Exklusivitätsfrist für ein Arzneimittel. Die minimale Dauer des gesetzlichen Schutzes wird von zehn auf acht Jahre herabgesetzt. Pharmazeutische Unternehmen können jedoch nach wie vor von einer verlängerten Exklusivitätsfrist profitieren (bis zu zwölf Jahre insgesamt oder vier zusätzliche Jahre), sofern…

  • … das Arzneimittel einen ungedeckten medizinischen Bedarf deckt;
  • … vergleichende klinische Studien durchgeführt werden;
  • … Produkte in einer größeren Anzahl von Ländern eingeführt werden;
  • … mehrere Indikationen bei der Entwicklung berücksichtigt werden.

Folglich sind die Hersteller dazu verpflichtet, ihre Forschungs-, Entwicklungs- und Vermarktungsstrategien einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um die genannten Kriterien für die Verlängerung der Schutzdauer zu erfüllen. Die Erfüllung dieser Kriterien stellt jedoch eine signifikante Herausforderung für die Pharmaunternehmen dar. Ein erstes Beispiel für die dargelegte Problematik bietet das Konzept der vergleichenden Studien, welches bei seltenen Krankheiten nicht durchgängig als relevant erachtet werden kann und für die Arzneimittelhersteller insgesamt ein höheres Risiko birgt. Ein weiteres Beispiel ist die Markteinführung in den 27 EU-Ländern innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren. Dies impliziert, dass erhebliche kommerzielle und operative Spitzenleistungen erforderlich sein werden, wenn man bedenkt, dass die Markteinführung in all diesen Ländern gegenwärtig über längere Zeiträume erfolgt. Es stellt sich die Frage, wie mit Unternehmen verfahren werden soll, die in einigen dieser Länder nicht vertreten sind. Dies bedingt eine Anpassung der Vertriebsstrategie in denjenigen europäischen Ländern, welche nicht in den Geltungsbereich fallen.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Schutzdauer verkürzt wird, was eine frühere Markteinführung von Generika und Biosimilars zur Folge hat. Die Kombination beider Faktoren birgt das Potenzial für signifikante Einbußen im Umsatz. Dies wird die Branche dazu veranlassen, ihre Prognosen für Rentabilität und Umsatz innerhalb der nächsten zehn Jahre zu überarbeiten, sollte die Reform angenommen werden.

Säule Nr. 2: Reduzierung von Arzneimittelengpässen und Gewährleistung der Versorgungssicherheit

Die Reform des EU-Arzneimittelrechts zielt darauf ab, Arzneimittelengpässe und logistische Schwachstellen zu beseitigen. Dadurch soll die Verfügbarkeit lebenswichtiger Arzneimittel gewährleistet und sichergestellt werden, dass Patienten immer Zugang zu Arzneimitteln haben, unabhängig davon, wo sie in der EU leben. Zu diesem Zweck verpflichtet die neue Verordnung die nationalen Behörden sowie die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zur Überwachung von Arzneimittelengpässen. Zudem werden die pharmazeutischen Unternehmen dazu verpflichtet, eine Reihe von strengeren Verpflichtungen einzuhalten, darunter die unverzügliche Meldung von Lieferproblemen und Rücknahmen von Arzneimitteln sowie die Ausarbeitung von Plänen zur Verhinderung von Arzneimittelengpässen. Im Rahmen der Reform des EU-Arzneimittelrechts wird ein EU-weiter Katalog unentbehrlicher Arzneimittel erstellt und eine Bewertung der Schwachstellen in der Versorgungskette vorgenommen. Ziel ist es, Organisationen und andere Interessengruppen zu beraten, welche spezifischen Maßnahmen zu ergreifen sind, um die Verfügbarkeit lebenswichtiger Arzneimittel zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Patienten immer Zugang zu Arzneimitteln haben, unabhängig davon, wo sie in der EU leben.

Dies kann dazu führen, dass Pharmaunternehmen ihre Lieferengpässe gegenüber ihren Konkurrenten offenlegen müssen, wodurch ihre Schwächen oder zumindest die Diskrepanz zur gewünschten Situation auf Branchenebene offenbart werden. Diese Maßnahmen können jedoch auch als Chancen genutzt werden: Es stellt sich die Frage, auf welche Weise sich solide Pläne zur Sicherung der Versorgung in einen Vorteil für den Gewinn von Ausschreibungen verwandeln lassen.

Säule Nr. 3: Umweltverträglichere Gestaltung von Arzneimitteln

Die aktualisierten Gesetze verfolgen das Ziel, die ökologische Nachhaltigkeit von Arzneimitteln zu fördern. Zu diesem Zweck sehen sie eine Verbesserung der Umsetzung bestehender Umweltvorschriften sowie eine Verpflichtung der Arzneimittelhersteller zur Offenlegung ihrer Rückstände vor. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, das Umweltbewusstsein zu schärfen, potenziell schädliche Umweltauswirkungen zu minimieren und die Hersteller zu motivieren, umweltfreundliche Praktiken in ihre Produktionsprozesse zu integrieren. In diesem Sinne stellt die Regulierung einen zusätzlichen Anreiz zur Auseinandersetzung mit den Umweltauswirkungen des Gesundheitssektors dar.

Säule Nr. 4: Bekämpfung der Antibiotikaresistenz (AMR) durch die Initiative „One Health“

Die aktualisierte Verordnung fokussiert sich zudem auf die Bekämpfung der Antibiotikaresistenz, welche eine der gravierendsten Gesundheitsgefahren innerhalb der Europäischen Union darstellt. Der neue Ansatz verfolgt das Ziel, Investitionen in diesem Bereich zu fördern und dadurch einen Beitrag zum Kampf gegen die Antibiotikaresistenz zu leisten. Der Leitfaden ermutigt Organisationen, in die Entwicklung neuer antimikrobieller Mittel zu investieren, welche resistente Krankheitserreger wirksam behandeln können. Zudem wird eine Fokussierung auf die Innovation von Antibiotika empfohlen. Die Förderung dieser Forschung erfolgt durch übertragbare Gutscheine, wodurch sich das Zulassungsverfahren beschleunigen lässt. Es ist zu erwarten, dass die Verordnung dazu beitragen wird, den grundlegenden Trend der Suche nach Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie nach Geschäftsentwicklungsmöglichkeiten in diesem Bereich weiter zu fördern.

Des Weiteren beinhaltet der Text eine Empfehlung des Rates, welche einen „One Health“-Ansatz befürwortet. Dieser Ansatz umfasst die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt. Der Vorschlag zielt auf die Förderung eines verantwortungsvollen Einsatzes antimikrobieller Mittel ab. Zu diesem Zweck werden messbare Ziele definiert, die den nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen. Zudem ist beabsichtigt, das öffentliche Bewusstsein und Berufsausbildungen zu verbessern sowie die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten zu fördern.

Säule Nr. 5: Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und Gewährleistung von Transparenz bei der Finanzierung der Arzneimittelentwicklung

Der letzte Punkt der Reform des EU-Arzneimittelrechts ist die Reduktion des Verwaltungsaufwands. Im Rahmen der Überarbeitung wird der Vorschlag unterbreitet, das wissenschaftliche Bewertungs- und Zulassungsverfahren für Arzneimittel zu beschleunigen, um die durchschnittliche Dauer der EMA-Zulassungsverfahren von 400 Tagen auf 180 Tage zu verkürzen. Des Weiteren zielt die Überarbeitung der Rechtsvorschriften darauf ab, ein Regelungsumfeld zu etablieren, welches Innovationen fördert und eine optimierte regulatorische sowie frühzeitige wissenschaftliche Unterstützung gewährleistet.

Für vielversprechende Arzneimittel werden vereinfachte Verfahren eingeführt und die Digitalisierung vorangetrieben, beispielsweise durch die elektronische Einreichung von Anträgen und die elektronische Produktinformation.

Die Realisierung dieser Maßnahme würde primär dazu führen, dass die Tochtergesellschaften früher als bislang mit den Vorbereitungen zur Markteinführung beginnen müssten, was insbesondere für kleinere Tochtergesellschaften, welche die Markteinführung oft erst kurz vor der eigentlichen Markteinführung vorbereiten, eine anspruchsvolle Herausforderung darstellen würde.

Schließlich wird durch die Gesetzesänderung auch die Transparenz bei der öffentlichen Finanzierung der Arzneimittelentwicklung eingeführt und die Erstellung vergleichbarer klinischer Daten gefördert. Es bleibt abzuwarten, welche Akteure in Europa die meisten öffentlichen Mittel für ihre Forschung und Entwicklung erhalten werden, sobald die entsprechenden Daten verfügbar sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Verabschiedung der neuen EU-Pharmarechtsreform eine signifikante Transformation des Sektors zur Folge haben wird, wodurch die Unternehmen vor die Herausforderung gestellt werden, sich an die neuen Anforderungen anzupassen. Die Förderung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, die Gewährleistung eines schnelleren Zugangs zu Arzneimitteln für Patientinnen und Patienten sowie die Aufrechterhaltung hoher Standards für Sicherheit und Wirksamkeit sind die Kernziele der neuen EU-Pharmarechtsreform.

Allerdings besteht die Möglichkeit, dass diese Verordnung das europäische System aus Unternehmenssicht weniger attraktiv macht. Die Überarbeitung birgt das Risiko, dass die pharmazeutische Industrie anderen geografischen Gebieten den Vorzug gibt, was von einigen bereits in Erwägung gezogen wird. Tatsächlich wird von mehreren Interessengruppen argumentiert, dass eine Überarbeitung die Forschung, die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovation behindern wird, ohne die aktuellen Probleme der Zugänglichkeit tatsächlich zu lösen.

Folglich steht der EU-Arzneimittelsektor vor einem signifikanten Transformationsprozess. Die Gesundheitsindustrie ist nun gefordert, adäquate Reaktionen zu zeigen und Aktionspläne zu entwickeln, um die sich bietenden Chancen zu nutzen und daraus Wettbewerbsvorteile zu generieren. Alcimed bietet Ihnen Unterstützung bei der Umsetzung von Projekten im Kontext der neuen Regelung. Für etwaige Rückfragen steht Ihnen unser Team jederzeit zur Verfügung.


Über die Autorin, 

Zoé, Consultant in Alcimeds Healthcare Team in Frankreich

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