Kollaborative Netzwerke für die Pharmaindustrie: neue Geschäftsmodelle zur Wertsteigerung
Für jedes Unternehmen der pharmazeutischen Industrie sollte der Aufbau kollaborativer Netzewerke eine zentrale Aufgabe darstellen. Die Möglichkeit der Vernetzung innerhalb eines Unternehmens erlaubt die Realisierung kompatibler oder sogar gemeinsamer Ziele mit geringeren Kosten, als dies Einzeln der Fall wäre. Diesbezüglich ist sowohl eine Erleichterung der Wissenssuche als auch des Wissenstransfers zu verzeichnen.
Der kollaborative Ansatz impliziert die Etablierung kollaborativer Geschäftsmodelle bereits in der Anfangsphase. Innerhalb von Kooperationsnetzen sollten die Geschäftsmodelle der einzelnen Organisationen so gestaltet sein, dass sie sich gegenseitig einbeziehen und eine leichte Erweiterung möglich ist. Ein Netzwerk, welches die gemeinsame Nutzung von Aktivitäten in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Produktion, Logistik sowie Marketing ermöglicht. Das Ziel besteht in der Schaffung eines Systems, in dem Daten, Rohstoffe und neue Produkte schneller und effizienter zwischen den Organisationen ausgetauscht werden können.
Die Innovationskraft von spezialisierten Organisationen sowie von Start-ups sollte Berücksichtigung finden und in die verschiedenen Phasen von der Forschung und Entwicklung bis hin zum Marketing und Vertrieb einbezogen werden. Die Einbindung spezialisierterer Organisationen in das Netzwerk eröffnet die Möglichkeit, auf die Ressourcen vieler verschiedener Akteure in der Pharmaindustrie und darüber hinaus zuzugreifen.
In Forschung und Entwicklung ermöglicht der kollaborative Ansatz die Verknüpfung des zentralen Wertversprechens – des pharmazeutischen Medikaments – mit technologischen Lösungen in den Bereichen Prävention, Diagnose und Behandlung. Die Kooperation mit Biotechnologie-, Medizintechnik- und Gesundheitsdienstleistern fungiert als Wertschöpfungsnetz, welches sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert.
Im Marketing und Vertrieb führt die Möglichkeit zur gemeinsamen Nutzung von Programmen[1], Auftragnehmern oder sogar Kunden zu einer Verringerung von Kosten sowie einer Steigerung von Produktivität und Nischenwert. Zudem ermöglicht sie eine verstärkte Einbindung verschiedener Akteure. Des Weiteren ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und Unterstützung zwischen spezialisierten Akteuren unabdingbar. Die großen Pharmaunternehmen sind in der Regel auf ihre Kernkompetenzen hoch spezialisiert. Die Spezialisierung von Start-ups und ihre Fähigkeit, höhere Risiken einzugehen und schneller aus Fehlern zu lernen, erweist sich jedoch als hervorragender Hebel, um die große Vielfalt interdisziplinärer und digitaler Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette abzudecken.
Des Weiteren bestehen Möglichkeiten der Kooperation mit Branchen, die nicht dem Bereich der Pharmaindustrie und der Biowissenschaften zuzuordnen sind. Die Start-up-Szene nutzt die Anwendung neuester Technologien in etablierten Märkten, um spezialisierte Geschäftsmodelle zu etablieren. Es lässt sich ein Trend zu Venture-Capital-Investitionen im Bereich Healthcare-AI beobachten, der höher ist als in jedem anderen Sektor im Silicon Valley.
Die nachfolgenden Beispiele veranschaulichen einen ersten Ansatz, wie kollaborative Netzwerke und entsprechende Geschäftsmodelle ausgestaltet sein können, um für die Pharmaindustrie profitabel zu sein.
Beispiel Nr. 1: der Company Builder von RoX Health
Im März 2020 wurde RoX Health als Tochterunternehmen von Roche gegründet. Der Fokus des Unternehmens liegt auf der Markteinführung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA), die von Roche entwickelt wurden und zuvor im Rahmen von Pilotprojekten evaluiert wurden. Des Weiteren fördern sie sowohl externe Gründer als auch Start-ups im Bereich der digitalen Gesundheit bei der Etablierung ihrer Geschäftsmodelle, der Zertifizierung ihrer Anwendungen sowie beim Markteintritt. Aufgrund ihrer Expertise in den Bereichen Evaluation, Erstattung und Kommerzialisierung liegt ihr medizinischer Fokus sowohl auf therapeutischen als auch auf präventiven Lösungen.
Kollaborativer Ansatz
Das Leistungsspektrum von RoX Health umfasst sowohl die eigenständige Realisierung von Projekten als auch die Umsetzung externer Vorhaben. Dies impliziert, dass das Team mit Trendthemen von Roche arbeitet, um deren Ideen und bereits vorhandene Technologien weiterzuentwickeln sowie Wissen zu generieren, das für den eigenen Profit genutzt werden kann. Des Weiteren stellen sie ihre Expertise und Beratung auch unternehmensfremden Start-ups zur Verfügung. Die Kooperationsmöglichkeiten erstrecken sich von der Ideengenerierung über die Entwicklung eines ersten Prototyps oder Geschäftsmodells bis hin zur Markteinführung und umfassen alle dazwischenliegenden Phasen. In beiden Fällen – sowohl bei internen als auch bei externen Projekten – wird das finale Ziel die Zulassung als DiGA und die Markteinführung der Standardversorgung sein. In Bezug auf die Unterstützung von Start-ups, die keine Unternehmen sind, bietet Roche neben dem Kapital des Roche-Venture-Fonds auch die Möglichkeit, sich an vielversprechenden Start-ups zu beteiligen.
Wichtige Erkenntnisse für die Zusammenarbeit in der Pharmaindustrie
Der Company Builder ermöglicht den Lerntransfer nicht nur zwischen den Mitarbeitern des Company Builders, den Gründern und Start-ups, sondern auch zwischen den internen und externen Gründern und den von ihnen geführten Start-ups. Der Open-Innovation-Ansatz impliziert die Möglichkeit zur Generierung vielfältigen Wissens in einem breiten Spektrum an Lernumfeldern. Dies könnte die Initialzündung für die Etablierung eines öffentlichen Netzwerks darstellen, an dem sich jeder beteiligen kann, der daran interessiert ist.
Beispiel Nr. 2: das datenbasierte Geschäftsmodell von Heartbeat
Heartbeat ist ein Akteur im Gesundheitswesen, der digitale Lösungen mit „Patient Reported Outcome Measures“ (PROMs) [2] für verschiedene medizinische Bereiche zur Validierung von Behandlungen anbietet. Das Geschäftsmodell wurde entwickelt, um individuelle Softwarelösungen für Kliniken und Ärzte entweder gegen Gebühr oder für Pakete mit einem festgelegten Erstattungsbetrag anzubieten. Die Ableitung von Behandlungseffekten und langfristigen Gesundheitsfragen erfolgt anhand standardisierter und validierter Fragebögen, welche durch die Patienten ausgefüllt werden. Die Bereitstellung von Daten ermöglicht eine datenbasierte, nachhaltige Patientenversorgung für Kliniken und Krankenhäuser. Zudem werden Daten für andere Life-Science-Branchen geliefert.
Kollaborativer Ansatz
Die PROMs in Krankenhäusern stellen einen wesentlichen Faktor im Prozess der Digitalisierung der klinischen Abläufe dar. Sie verschaffen einen Überblick über den Genesungsprozess einzelner Patienten, fördern somit die Qualität einer gesamten Einrichtung und bilden die Grundlage für medizinische und wirtschaftliche Entscheidungen. Die Patienten sind in hohem Maße in die Behandlung involviert.
Im Life Sciences Bereich stellen „Patient Reported Outcomes“ (PROs) ein Instrument zur Unterstützung der Life-Science-Industrie bei der Entwicklung hochwertiger, auf den Patienten zugeschnittener Produkte und Dienstleistungen dar. Die Erfüllung regulatorischer Anforderungen pharmazeutischer und medizintechnischer Unternehmen wird durch Real World Evidence maßgeblich unterstützt. Zudem stellt diese Methode Ressourcen für die Durchführung klinischer Studien bereit. Des Weiteren gewinnen Patienten an Einsicht und Verständnis für ihre gesundheitlichen Problematiken. Die Qualität der Behandlung determiniert die Lebensqualität.
Wichtige Erkenntnisse für die Zusammenarbeit in der Pharmaindustrie
Die Kombination aus der Beteiligung der Patienten und der Nutzung ihrer Daten als Schlüsselaktivität sowie die Etablierung mehrerer Kundensegmente demonstrieren ein Modell, welches den Bedarf an und das Potenzial für eine zentrale Position in einem stark verflochtenen Ökosystem aufweist. Das Geschäftsmodell selbst kann als idealer Knotenpunkt in einem kollaborativen Netzwerk für die Interoperabilität von Systemen betrachtet werden.
Beispiel Nr. 3: das Ökosystem-Geschäftsmodell von Waymo
Das Unternehmen Waymo entwickelt Technologien für autonomes Fahren. Waymo wurde im Jahr 2009 als Tochtergesellschaft von Alphabet gegründet und ist ein Unternehmen für selbstfahrende Technologien, dessen Ziel es ist, Menschen und Dinge sicher und komfortabel zu befördern. Die Unternehmensphilosophie von Alphabet ist durch das Motto „AI first“ geprägt.
Kollaborativer Ansatz
Im Jahr 2009 initiierte der Internetkonzern Google das Projekt „Self-Driving Car“, welches sich der Entwicklung autonomer Fahrzeuge widmete. Nach einer Fahrleistung von über 300.000 Kilometern erfolgte im Jahr 2016 die Ausgliederung des Projekts als „Waymo“. Dennoch wurden Google-Mitarbeiter eingeladen, erste Tests der autonomen Technologie auf Autobahnen durchzuführen. Sie waren die ersten weltweit, die im Jahr 2015 eine vollständig autonome Fahrt auf einer öffentlichen Straße durchführten. Des Weiteren ging Waymo eine Kooperation mit dem Automobilhersteller FCA ein, um die Flotte zu erweitern. Der Hardware-Anzug des Fahrzeugs wird von Waymo entwickelt, während der Rest des Fahrzeugs in Massenproduktion gefertigt wird. Nach der ersten öffentlichen Erprobung von selbstfahrenden Fahrzeugen in Phoenix und dem Start von Waymo One im Jahr 2019 erfolgt gegenwärtig eine Ausweitung des öffentlichen Fahrdienstes von Waymo auf den Bereich der Logistiktransporte. Des Weiteren initiiert das Unternehmen eine Kooperation mit deutschen Unternehmen wie Bosch, um eine Expansion des Geschäfts zu fördern.
Wichtige Erkenntnisse für die Zusammenarbeit in der Pharmaindustrie
Der aus einem Business-Ecosystem um Alphabet und Google hervorgegangene Ökosystem-Ansatz könnte als Vorbild für die Pharmaindustrie dienen. Die Ausrichtung multilateraler Partner sowie die Organisation ihrer Interaktionen dienen als Belege für eine erfolgreiche Umsetzung der Ökosystemstrategie. Zu den Akteuren des Ökosystems zählen unter anderem Waymo, ein Unternehmen, das sich mit der Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz über Deepmind befasst, das Start-up Calico, welches Methoden gegen das Altern des Menschen erforscht, SideWalk, ein Unternehmen, das sich mit urbaner Innovation befasst, GV, ein Risikokapitalgeber, und zahlreiche weitere Unternehmen. Der Erfolg von Waymo ist maßgeblich durch das kollaborative Netzwerk beeinflusst. Es inspiriert dazu, direkte und indirekte Verbindungen zwischen Akteuren in der Pharmaindustrie und darüber hinaus zu erkennen und zu verwalten. Bei indirekten Verbindungen ist der fokussierte Akteur gefordert, seine strategische Sichtweise zu erweitern, um Aktivitäten und Akteure zu integrieren, die ihm möglicherweise nicht direkt unterstehen und mit denen er keinen direkten Kontakt hat. Ein Transfer zwischen den Akteuren des Ökosystems findet statt, wobei das fokale Unternehmen nicht immer involviert ist, jedoch über die entsprechenden Kenntnisse verfügen sollte.
Mehrwert „über Pillen hinaus“
Austausch von Erkenntnissen und Daten
Die Kombination des zentralen Wertversprechens mit neuen digitalen Technologien und Lösungen erlaubt eine Erweiterung des Pharma-Portfolios. Das „Company Builder“-Modell sowie das datenbasierte Modell exemplifizieren die Möglichkeiten der Erweiterung der Palette von Dienstleistungen und Produkten. Ein wesentlicher Schritt könnte in der Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen bestehen, die sowohl in den Bereichen Prävention und Diagnostik als auch in der Behandlung zum Einsatz kommen könnten. Die Überwachung spezifischer Behandlungsabläufe erfolgt unter Einbezug des Patienten als Endkunde. Im Gegenzug erhält die Pharmaindustrie durch den Austausch von Patientendaten wertvolle Erkenntnisse, welche sie mit ihrem Netzwerk teilen kann, um den Prozess der Gesundheitsversorgung kontinuierlich zu optimieren. Die Öffnung für Interoperabilität stellt einen wesentlichen Faktor zur Erleichterung des Austauschs von Erkenntnissen und Daten dar, wodurch letztlich die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten verbessert werden kann.
Interdisziplinäre Ökosysteme helfen bei der Wertsteigerung
Die Akteure und ihre Aktivitäten in einem Ökosystem müssen über ihre Geschäftsmodelle miteinander verbunden werden, um eine ganzheitliche Betrachtung zu ermöglichen. Eine stärkere Verflechtung der Wertschöpfungsprozesse ist erforderlich, um spezialisierte Partner in diesen einzubeziehen und die Reaktionsfähigkeit zu beschleunigen. Dadurch können sich die Akteure schneller an die sich ändernden Anforderungen des Umfelds anpassen. Die Beziehungen zwischen den Akteuren in einem Ökosystem sind jedoch nicht nur innerhalb der gleichen Branche, sondern auch branchenübergreifend aufrechtzuerhalten. Diesbezüglich kann das Beispiel von Waymo angeführt werden. Die Zusammenarbeit verschiedener Sektoren und Berufe ist unerlässlich.
Förderung des offenen Unternehmergeistes
Die kontinuierliche Förderung des Unternehmergeistes in Unternehmen ist von essenzieller Bedeutung. Der Start-up-Sektor ist durch eine hohe Vernetzungsdichte gekennzeichnet, wodurch den Unternehmen der Zugang zu den neuesten und innovativsten Kommunikationsprogrammen, Technologien und Finanzmitteln erleichtert wird. Es sei darauf verwiesen, dass die Kommunikations-, Entscheidungs- und Geschäftszyklen von kleinen Start-ups in signifikantem Maße von denen großer Unternehmen abweichen. Es obliegt den Unternehmen, sich um die Schaffung von Optionen zur Adaption an die sich in kürzerer Frequenz ändernden Bedürfnisse von Start-ups zu bemühen, um ein erfolgreiches Kooperationsnetzwerk zu etablieren.
[1] Cloud-basierte Plattformen, die mit externen Dienstleistern und anderen Akteuren gemeinsam genutzt werden, um Daten zu sammeln und auszutauschen und Strategien für Marketing- und Verkaufszwecke zu entwickeln z.B., um eine Social-Media-Kampagne mit Social Influencers zu starten.
[2] Bewertung der Behandlungsergebnisse.
Über die Autoren,
Karla Gehde, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster, Institut für Betriebswirtschaftslehre im Fachbereich Chemie und Pharmazie
Dr. Sebastian Eidam, Project Manager in Alcimeds Life Sciences Team in Deutschland