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Inverse Impfstoffe: eine neue Hoffnung für Millionen von Patienten mit Autoimmunerkrankungen

Veröffentlicht am 14 März 2025 Lesen 25 min

Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigene Gewebe angreift, stellen eine erhebliche Belastung für die globale Gesundheit dar. Sie betreffen Millionen von Menschen weltweit und führen zu chronischen Erkrankungen, Behinderungen und erhöhten Gesundheitskosten. Im September 2023 wurden vielversprechende Neuigkeiten für Patienten mit Autoimmunerkrankungen veröffentlicht. Forschende der Universität Chicago haben einen neuartigen Inversen Impfstoff entwickelt, der potenziell in der Lage ist, Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose und Typ-1-Diabetes umzukehren. Dies erfolgt durch die Löschung des Gedächtnisses spezifischer Zellen im Immunsystem, wobei die allgemeine Immunfunktion dabei nicht beeinträchtigt wird. Es handelt sich bei diesem allerdings nicht um den ersten inversen Impfstoff, der zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen entwickelt wurde. Im Folgenden betrachten wir den aktuelle Stand der Technik genauer.

Was sind inverse Impfstoffe?

Autoimmun- und autoinflammatorische Erkrankungen sowie Allergien resultieren aus unangemessenen Immunreaktionen und fehlgeleiteten Entzündungen. Die derzeitigen Behandlungsmethoden für diese Erkrankungen, zu denen unspezifische immunsuppressive Medikamente und begleitende Maßnahmen gehören, erfordern eine fortlaufende Therapie und gehen zum Teil mit gravierenden Nebenwirkungen einher.

Inverse Impfstoffe stellen einen antigen-spezifischen Ansatz zur Induktion von Toleranz gegenüber einem bestimmten Antigen dar. Im Gegensatz zu einem traditionellen Impfstoff, der das Immunsystem anweist, ein Virus oder Bakterium als Bedrohung zu erkennen und zu bekämpfen, basiert die Behandlung mit einem inversen Impfstoff darin, dass ein Antigen als „Freund“ erkannt wird und das Immunsystem lernt dadurch körpereigene Gewebe nicht mehr länger anzugreifen.

Ihr Wirkmechanismus basiert auf der Unterdrückung der unerwünschten Immunreaktion durch Deletion, Hemmung oder Abweichung von antigen-spezifischen Effektorzellen. Gleichzeitig fördern sie die Initiierung und/oder das Wachstum von antigen-spezifischen T-regulatorischen Zellen.

Auf welchen Impfstrategien basiert die Entwicklung von inversen Impfstoffen?

Das Konzept des Invers-Impfstoffs ist schon länger Gegenstand der wissenschaftlicher Forschung. Erstmals wurde der Begriff „Inverse-Vaccination“ vor fünfzehn Jahren von Dr. Lawrence Steinman von der Stanford University School of Medicine in Kalifornien eingeführt. In klinischen Studien wurden zwei DNA-Invers-Impfstoffe von Steinman getestet, wobei kein Nachweis erbracht werden konnte, dass diese eine höhere Wirksamkeit als die bestehenden Standardtherapien aufweisen.

Im Jahr 2021 untersuchte Dr. Krienke gemeinsam mit ihren Kollegen einen mRNA-Impfstoff in experimentellen Mausmodellen der Multiplen Sklerose. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass die Impfung die Schwere der immunvermittelten Schäden verzögerte oder verringerte.

Die jüngste, im September 2023 kommunizierte Strategie wurde von Prof. Jeffrey Hubbell und seinen Kollegen an der Pritzker School of Molecular Engineering (PME) der University of Chicago entwickelt. Der neuartige inverse Impfstoff basiert auf dem natürlichen Mechanismus der Leber, Moleküle von abgebauten Zellen mit dem Zucker N-Acetylgalactosamin (pGal) zu markieren und „nicht-angreifen“-Signale zu senden, um Autoimmunreaktionen auf Zellen zu verhindern, die durch normale Prozesse absterben.

Das Konzept der Invers-Impfstoffe erfährt eine fortlaufende Weiterentwicklung, die auf das zunehmende Engagement von Branchenakteuren zurückzuführen ist. Start-Ups wie Anokion, COUR Pharma und Imcyse sowie große Unternehmen wie Pfizer, Bristol Myers Squibb, Novartis, Roche und Boehringer Ingelheim haben bereits eine Präsenz auf diesem Gebiet etabliert.


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Welche Vorteile haben inverse Impfstoffe für Patienten?

Inverse Impfstoffe bieten mehrere potenzielle Vorteile für Patienten mit Autoimmunerkrankungen:

Zielgerichtete Wirkung

In einer Studie wurde eine signifikant erhöhte Infektionsrate bei Patienten beobachtet, die mehrere Behandlungszyklen mit bestimmten biologischen Wirkstoffen erhielten. Zudem konnte bei Patienten mit schweren Infektionen eine signifikante Reduktion der Überlebensrate nachgewiesen werden1https://arthritis-research.biomedcentral.com/articles/10.1186/ar3397. Inverse-Impfstoffe zielen spezifisch auf krankheitsassoziierte Antigene ab, ohne beim Patienten eine Anfälligkeit für Infektionen zu induzieren.

Weniger Nebenwirkungen

Die Behandlung von Autoimmunerkrankungen durch Medikamente, welche das gesamte Immunsystem unterdrücken, birgt das Risiko einer Reihe von Nebenwirkungen, darunter Schäden am Herzmuskel, Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Nierenversagen und weitere. Inverse-Impfstoffe zielen darauf ab, die genannten Nebenwirkungen zu vermeiden, indem sie lediglich die als problematisch eingestuften Immunreaktionen gezielt angreifen.

Anwendbarkeit auf verschiedene Erkrankungen

Der grundlegende Ansatz könnte potenziell adaptiert werden, um eine Vielzahl von Autoimmunerkrankungen zu behandeln. Derzeit umfasst die Pipeline nicht nur Multiple Sklerose und Typ-1-Diabetes, sondern auch andere Autoimmunerkrankungen wie Zöliakie, primäre biliäre Cholangitis, Morbus Basedow, Vitiligo und Myasthenia Gravis.

Zukünftige Herausforderungen

Identifizierung des korrekten Antigens

Die Ätiologie von Autoimmunerkrankungen ist auf physiologische Immunantworten auf Autoantigene zurückzuführen. Unter der Voraussetzung, dass die Krankheitsmechanismen verstanden und die problematischen Autoantigene identifiziert werden, besteht die Möglichkeit, diese Wege zu modifizieren, um die Toleranz des Immunsystems gegenüber den Selbstantigenen zu fördern. Dies könnte beispielsweise bei Multipler Sklerose und Typ-1-Diabetes von Nutzen sein.
Für die meisten Autoimmunerkrankungen besteht jedoch noch ein erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich der zugrunde liegenden Mechanismen. Diesbezüglich besteht beispielsweise bei entzündlichen Darmerkrankungen und Psoriasis keine Einigkeit darüber, welches das korrekte Autoantigen ist.

Erschwerte Bedingungen für klinische Studien

Obwohl vielversprechende Fortschritte zu verzeichnen sind, konnte die klinische Wirksamkeit der vielversprechenden Tierversuche mit inversen Impfstoffen bislang nicht nachgewiesen werden. Um klinische Studien für weitere Tests zu entwerfen, müssen neben der Auswahl einer geeigneten Krankheit und der Bestimmung des kritischen Antigens für das Design der klinischen Studie noch Fragen zum Mechanismus der bestehenden Invers-Impfstoff-Strategie geklärt werden. Die Immunologin Jane Buckner vom Benaroya Research Institute erachtet den neuesten inversen Impfstoff als einen vielversprechenden Ansatz, weist jedoch darauf hin, dass die zugrundeliegenden Mechanismen, welche die Induktion von Toleranz bewirken, noch nicht vollständig verstanden sind.

In der Summe lässt sich festhalten, dass das Aufkommen von inversen Impfstoffen einen vielversprechenden Schritt in der Behandlung von Autoimmunerkrankungen darstellt. Für Millionen von Menschen weltweit, die unter diesen belastenden Erkrankungen leiden, besteht nun Anlass zur Hoffnung. Obwohl bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen sind, bestehen jedoch weiterhin Herausforderungen. Wir bei Alcimed werden Sie über die weitere Entwicklung von inversen Impfstoffen auf dem Laufenden halten. Für etwaige Rückfragen oder Projektideen zu diesem Themenbereich steht Ihnen unser Team jederzeit zur Verfügung.


Über die Autorin, 

Chaoyue, Senior Consultant in Alcimeds Life Sciences Team in Frankreich

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