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Drei Herausforderungen und Chancen in der Arzneimittelentwicklung für seltene Erkrankungen

Veröffentlicht am 10 Juni 2024 Lesen 25 min

Obwohl allgemein angenommen wird, dass seltene Krankheiten (Rare Diseases) lediglich eine geringe Anzahl von Individuen betreffen und daher leicht übersehen werden können, zeigt sich in der Realität ein anderes Bild. In Europa sind schätzungsweise 36 Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen, was etwa der Hälfte der französischen Bevölkerung entspricht.1https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php?lng=EN Die Frage, was eine seltene Krankheit definiert, ist von zentraler Bedeutung. Es existiert keine universell akzeptierte Definition, vielmehr basiert diese auf dem Konzept der Prävalenzschwellen. Im Jahr 1999 definierte die EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden eine seltene Krankheit als eine Erkrankung, die nicht mehr als eine von 2.000 Personen betrifft.2https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:018:0001:0005:EN:PDF Bis heute wurden über 7.000 seltene Krankheiten beschrieben, wobei die Wissenschaft von der Entdeckung weiterer seltener Krankheiten durch Wissenschaftler*innen ausgeht.3https://www.certara.com/app/uploads/2022/04/WP_Rare-Disease_Final.pdf Die Mehrheit der seltenen Krankheiten hat eine genetische Ursache (circa 80%), wobei auch Formen von seltenen Autoimmunerkrankungen und seltenen Krebsarten beschrieben wurden.4https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php?lng=EN5https://www.certara.com/app/uploads/2022/04/WP_Rare-Disease_Final.pdf Für den Großteil der seltenen Krankheiten existiert bislang keine Heilung. Zudem besteht in diesem Feld noch erheblicher Forschungs- und Erkenntnisbedarf. Dennoch konnten in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge verzeichnet werden. Die zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden und die medizinische Versorgung haben sich als förderlich für die Lebensqualität und die Lebensdauer der Betroffenen erwiesen. Dennoch ist evident, dass weitere Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen seitens der Wissenschaft erforderlich sind, um die Lebensqualität und -dauer von Personen mit seltenen Krankheiten signifikant zu verbessern.

Wir beobachten kontinuierlich die aktuellen Entwicklungen im Bereich der therapeutischen Behandlungen seltener Krankheiten und haben im Folgenden jeweils drei Herausforderungen und Chancen für die aktuelle Forschung und Entwicklung im Bereich der seltenen Krankheiten zusammengefasst.

Herausforderungen bei der Arzneimittelentwicklung für seltene Krankheiten

Herausforderung Nr. 1: kleine Patientenkohorten erschweren die Durchführung von klinischen Studien

Die Rekrutierung einer hinlänglichen Anzahl von Patienten, welche die Einschluss- und Ausschlusskriterien einer spezifischen Studie erfüllen, kann aufgrund der geringen Prävalenz seltener Krankheiten eine Herausforderung darstellen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Patientengruppen in Bezug auf Krankheitstyp, Symptome, Stadien und frühere Behandlungen eine erhebliche Heterogenität aufweisen. Daher sind zahlreiche klinische Studien zu seltenen Krankheiten multizentrisch und oftmals multinational angelegt, um eine ausreichende Rekrutierung von Patienten gewährleisten zu können. Diesbezüglich können Herausforderungen bei der Harmonisierung von Protokollen, ethischen Prüfungen, Finanzierung, Organisation von klinischen Diensten, Standards der Versorgung sowie kultureller Vielfalt beobachtet werden.

Obwohl randomisierte klinische Studien als Goldstandard gelten, erscheint eine sorgfältige Prüfung verschiedener Studienansätze ratsam. Dazu zählen beispielsweise Multi-Arm-Studien, bei denen mehrere Interventionen gleichzeitig innerhalb derselben Studie getestet werden, sowie Open-Label-Studien, bei denen die Zuweisungen der Behandlungen sowohl den Teilnehmern als auch den Forschern bekannt sind. Die Anwendung alternativer Ansätze kann dazu beitragen, den Forschungsprozess zu optimieren und die Anzahl der benötigten Patienten zu reduzieren.

Herausforderung Nr. 2: fehlendes Wissen über seltene Erkrankungen erschwert die Erforschung neuer Medikamente

Die Erforschung seltener Krankheiten, deren Ursachen, Mechanismen und Wechselwirkungen nur unzureichend verstanden werden, stellt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor erhebliche Herausforderungen. Das begrenzte Verständnis führt zu Schwierigkeiten bei der Formulierung effektiver Forschungsstrategien sowie der Entwicklung gezielter Behandlungen. Ein Verständnis der natürlichen Krankheitsgeschichte sowie des Standardverlaufs ohne Intervention oder mit Standardbehandlung ist von entscheidender Bedeutung, um relevante Endpunkte für eine klinische Studie zu definieren. Des Weiteren sind zahlreiche seltene Krankheiten von Natur aus komplex und betreffen eine Vielzahl von Faktoren, Wegen und Wechselwirkungen im menschlichen Körper.

Eine Lösung kann in der Unterstützung interdisziplinärer Netzwerke bestehen, um Expertise aus Genetik, Biologie und Technologie zu vereinen, sowie in der Einrichtung zentralisierter Datenbanken zum Austausch von Daten, wodurch letztlich das Verständnis seltener Krankheiten verbessert werden kann.

Herausforderung Nr. 3: die Entwicklung von Therapien für seltene Erkrankungen ist wenig bis gar nicht lukrativ

Die Entwicklung eines Medikaments für eine seltene Erkrankung ist mit beträchtlichen finanziellen Herausforderungen für Pharmaunternehmen verbunden. Die mit der Arzneimittelentwicklung verbundenen, erheblichen Kosten sowie die geringe Patientenzahl und die überschaubare Marktgröße führen bei Pharmaunternehmen vielfach zu einer Zurückhaltung bei der Investition von Ressourcen in die Forschung seltener Krankheiten. Diese finanzielle Entscheidung resultiert in einer mangelnden Verfügbarkeit von Interventionen, welche eine Linderung der Symptome sowie eine Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens der betroffenen Patienten ermöglichen würden.

Als Lösungsansatz können Anreizprogramme, wie beispielsweise staatliche Steuervergünstigungen, Zuschüsse und Förderungen oder beschleunigte regulatorische Prozesse, dienen, um Investitionen in Therapien für seltene Krankheiten zu fördern.


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Obwohl in diesem Kontext diverse Herausforderungen auftreten, lassen sich vielversprechende Chancen identifizieren, welche den Weg für die Entwicklung innovativer Therapien für seltene Krankheiten ebnen könnten. Diese Möglichkeiten bergen das Potential, die Forschungslandschaft zu seltenen Krankheiten grundlegend zu transformieren und die Lebensqualität von Menschen, die von diesen Zuständen betroffen sind, signifikant zu verbessern. Im Folgenden werden drei dieser vielversprechenden Chancen näher betrachtet:

Chancen bei der Arzneimittelentwicklung für seltene Krankheiten

Chance Nr. 1: innovative Technologien und Designs in klinischen Studien

Die Durchführung klinischer Studien zu seltenen Krankheiten ist zweifellos mit komplexen und herausfordernden Aspekten verbunden. Die jüngst entwickelten technologischen Lösungen, die zur Unterstützung hybrider und dezentraler Studien sowie neuer klinischer Studiendesigns wie adaptiver Studien oder Plattformstudien konzipiert wurden, eröffnen vielversprechende Perspektiven, da diese Lösungen erfolgreich bestimmte Hindernisse für die Patientenbeteiligung überwunden haben. Adaptive Studien zeichnen sich durch eine Echtzeitanpassung des Studienplans basierend auf den gesammelten Daten aus. Dies ermöglicht eine hohe Flexibilität bezüglich der Behandlungsarme, der Stichprobengröße oder anderer Aspekte. Eine weitere Form adaptiver Studien sind Plattformstudien, bei denen mehrere Behandlungen gegen eine konstante Kontrollgruppe evaluiert werden. Dabei wird ein übergreifendes Protokoll verwendet. Des Weiteren besteht für die Zulassungsbehörden die Möglichkeit, Mechanismen wie Fast-Track-Designationen, Orphan-Drug-Status oder Priority Review zu implementieren, um den Genehmigungsprozess für klinische Studien rund um seltene Krankheiten zu beschleunigen. Dies erlaubt es Forschern, neue Interventionen und Therapien zeitnah zu evaluieren und gegebenenfalls die Test- und Genehmigungszeiten für potenzielle Behandlungen zu verkürzen.

Chance Nr. 2: multinationale Kooperationen

Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Ärzten, großen Pharmaunternehmen, kleinen Unternehmen und Patientenorganisationen im Rahmen internationaler Forschungskooperationen zu seltenen Krankheiten führt zu einer starken Synergie, die die Summe der individuellen Bemühungen übertrifft. Die genannten Initiativen decken ein breites Spektrum medizinischer Fachbereiche ab, darunter Neurologie, Immunologie, Stoffwechsel sowie seltene Krebserkrankungen. Die gewonnenen Erkenntnisse könnten zu grundlegenden Durchbrüchen im Verständnis der menschlichen Gesundheit führen und den Weg für innovative Lösungen ebnen, die über seltene Krankheiten hinausgehen und das allgemeine Wohlbefinden verbessern. Des Weiteren tragen diese Kooperationen zu Fortschritten in der Diagnostik, Behandlung und zu den besten Praktiken für den Einsatz in Krankenhäusern und Gesundheitssystemen bei.

Chance Nr. 3: personalisierte Behandlungen

Die Entwicklung von Therapien, die auf das einzigartige Profil eines Individuums mit einer seltenen Krankheit abgestimmt sind, kann den Weg für eine gezieltere und effektivere Intervention ebnen, wodurch letztlich die Ergebnisse und die Lebensqualität verbessert, werden können. Der hier beschriebene Ansatz erlaubt es den Forschenden, nach den genetischen und molekularen Mechanismen zu suchen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen. Dadurch kann ein tieferes Verständnis des Krankheitsverlaufs erlangt werden. Des Weiteren eröffnet er Perspektiven hinsichtlich innovativer Technologien wie Gen-Editing oder Präzisionsmedizin und fördert Fortschritte in diesem Bereich. Die Erforschung seltener Krankheiten trägt nicht nur zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen bei, sondern fördert auch das wissenschaftliche Verständnis von Medizin und treibt die Entwicklung personalisierter Gesundheitsversorgung voran.

Die beträchtliche Anzahl von Personen, die von seltenen Krankheiten betroffen sind, unterstreicht den dringenden Bedarf an innovativen Therapeutika. Die Sensibilisierung für das Thema, die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit, die Erkundung alternativer Studienansätze sowie die Überbrückung von Lücken zwischen den Beteiligten stellen zentrale Elemente der Strategie von Alcimed dar, um einen bedeutenden Beitrag im Bereich seltener Krankheiten zu leisten. Unser Healthcare Team beobachtet kontinuierlich die dynamische Landschaft seltener Krankheiten und unterstützt Sie gerne bei Ihren Projekten zur Thematik der seltener Krankheiten. Bei Rückfragen oder Ideen für konkrete Projekte in diesem Kontext kontaktieren Sie gerne unser Team.


Über den Autor, 

Haiko, Consultant in Alcimeds Life Sciences Team in Deutschland

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